Ostpreußen unter russischer Herrschaft

Aus der „Frankfurter Zeitung“ vom 26. Oktober 1914:

Zum zweiten Male sind die Russen aus Ostpreußen hinausgeworfen worden. Während noch die Brandstätten ihrer ersten Invasion schwelten, ging an der preußisch-russischen Grenze zum zweiten Male die Schreckensbotschaft entlang, die Kosaken kämen. Und selbst wer die erste Besetzung auf seinem Grund und Boden oder in seinem Wohnsitz miterlebt und sich durch keine Massensuggestion hatte vertreiben lassen: die zweite trieb auch den in die Flucht. Vor allem fürchtete jeder die Rache für Tannenberg . Die Russen waren von den sauberen ostpreußischen Städten, dem sorgsam bebauten Land, den vorzüglichen Straßen entzückt gewesen und waren der siegreichen deutschen Armee wütend gewichen. Ganz Ostpreußen trägt die Brandmale dieser Wut, die sich manchmal rein kindisch äußerte, wie bei der schon erwähnten Einäscherung des Rastenburger Offizierkasinos, einfach weil es das Offizierkasino war. Wie würde die Rache für Niederlage und Vertreibung sich äußern, wenn die Invasion zum zweiten Male kommen sollte? Dieser Überlegung hielt fast niemand stand. Arm und reich, Städter und Gutsbesitzer flohen, und wenn man die Flüchtigen in den Bahnhofsruinen, dieser Staffage russischer Verwüstung, zusammenhocken sah, verstand man die Unmöglichkeit, dieser Flucht Einhalt zu gebieten.
Wie haben sich nun die Russen als Herren Ostpreußens gezeigt? Ich habe mir tausenderlei aus der Russenzeit der verschiedensten Orte erzählen lassen, von Leuten jeden Standes, und will das hier mit dem zusammenfassen, was ich selbst gesehen habe. Die Städte Allenstein, Insterburg, Rastenburg, Wehlau, Gumbinnen sind entweder ganz oder im wesentlichen unversehrt. (In Allenstein wurde nichts, in Insterburg und Rastenburg je zwei Gebäude, in Gumbinnen ein Häuserquadrat zerstört, jeweils, mit Ausnahme von Rastenburg, unter dem Vorgeben, aus den Häusern seien Schüsse gefallen.) Das durchgängige, wohl auf Befehl beruhende Bestreben liegt klar zu Tage, in diesen Städten teils die Winterquartiere, teils die Hauptorte eines zu annektierenden Gebiets zu schonen. In richtiger Einschätzung der russischen Disziplin ließ das Oberkommando im Interesse dieser Schonung die Mannschaften in vielen Städten gar kein Quartier beziehen, sondern draußen im freien Feld biwakieren (so in Allenstein und Rastenburg). Die hohe Wertung dieser Städte kam auch in einer Schmeichelei zum Ausdruck, die seltsamerweise Allgemeingut der russischen Armee gewesen zu sein scheint. Wo nämlich die Russen hinkamen, waren sie von der jeweiligen Stadt so begeistert, daß sie den Einwohnern erklärten, nach der Einverleibung werde man dieselbe durch den Ehrennamen Klein-Petersburg auszeichnen. Anders wurde die Sachlage allerdings, als vom Süden herauf, von Osterode, Hohenstein, Neidenburg, der eiserne Besen das Land sauber fegte. Daß die Russen jetzt die Bahnbauten zerstörten, läßt sich verstehen; aber nun bekamen die Mordbrenner die Oberhand. Bis dahin scheinen die Offiziere ihr Möglichstes getan zu haben, um Disziplin zu halten, jetzt wurden sie selbst in den Verwüstungstaumel mit hineingerissen. Ich rede hier nicht von den Schändungen und Verstümmelungen, den Verschleppungen prominenter Männer und hübscher Frauen: all das ist sicherlich häufig vorgekommen, aber mir fehlen die Gewährsmänner. Was aber bleibt, ist genug, um uns aufs neue fühlen zu lassen, daß bei diesem Kampfe auf Leben und Tod der Einsatz so ungleich wie möglich ist: bei uns, aus einem Stamm, gleich an Geist und Körper, die Blüte der Menschheit, und links und rechts bei unsern Feinden ein Völker- und Farbengemisch vom Europäer bis zum Schwarzen und Gelben.
In Domnau stieg ein Gutsbesitzer in den Zug. Klein, lebhaft, scharf geschnittenes, rasiertes Gesicht mit buschigen Brauen über den Augen: 86 Jahre alt. Der war auf seinem Gut geblieben, als die Russen kamen. 200 Mann und zahlreiche Offiziere wurden ihm auf den Hof gelegt. Bei ihm war nur eine Magd geblieben. Als die Herren kamen, empfing er sie und sagte: „Leute zur Bedienung hab´ ich nicht, Kaffee kann ich machen lassen, Brot ist auch da. Mehl gibt´s nicht .“ Und man ließ den famosen Alten drüber hinaus vollständig ungeschoren. Nur alle Gäule, die unsre Armeeleitung verschmäht hatte, nahmen die Russen mit. Er war mit einem eingefangenen Gaul vor dem Einspänner an die Bahn gefahren. Mancher rettete so Hab und Gut durch mutiges Ausharren. Verwüstung vor allem in Kaufläden, der in den Schänken einer Gutsherrin wurde meistens dann angestellt, wenn niemand da geblieben war. Manchmal wurde selbst der Besitz der Geflohenen geschont. Eine Dame aus Goldap erzählte mir, sie hätte bei der hastigen Flucht auf behördliche Weisung die Kiste mit Silberzeug einfach mitten in die Küche gestellt und sie bei der Rückkunft heil vorgefunden. Das mögen allerdings Ausnahmen sein. Das Daheimbleiben, selbst in einer Stadt wie Lyck, wo doch nur reguläre Truppenteile unter hohen Offizieren lagen, hatte ebenfalls seine Gefahren. So war zum Beispiel jeder Alkoholausschank verboten. Russische Soldaten drangen in die Apotheke und bedrohten den zurückgebliebenen Lehrling, wenn er keinen Schnaps ausschänke. Zu dessen Glück ging gerade ein Offizier vorbei und fuhr mit der Nagaika dazwischen. (Die Handhabung der Knute von Offizieren gegen Untergebene, ja von Generälen gegen Subalternoffiziere, wird überhaupt von allen Seiten bestätigt.) So entging der Lehrling dem Tod, aber ebenso knapp kam ein Lycker Wirt am Erschossenwerden vorbei, weil er verängstigt Schnaps verschänkt hatte. Eine andere Gefahr schilderte mir ein Herr aus Lyck, dessen Haus übrigens von allem verschont blieb, weil es am Anfang der Pflasterung einer sonst ungepflasterten Straße lag und die Russen unter dem plötzlichen Pflaster Minen fürchteten. Der Herr erzählte: immer wenn sich ein deutscher Flieger über Lyck zeigte, legten sich die Russen reihenweise auf den Rücken und schossen wie die Verrückten ohne jedes Zielen, so daß der Plafond in der Wohnung des Herrn, die im zweiten Stock lag, wie ein Sieb durchlöchert war. Man versteht, daß er seine Familie einer zweiten Invasion nicht aussetzen wollte. Der Herr sowie seine Frau und seine zwei Kinder schworen übrigens, daß das allgemein belachte Märchen englischer Blätter (von deren Meldung die Herrschaften nichts wußten) kein Märchen sei, daß vielmehr die Russen wirklich und wahrhaftig grün angestrichene Pferde hätten.
Auf dem offenen Land, der Domäne der Streifpatrouillen, wo die Rohheit des einzelnen den Ausschlag gibt, haben die Russen natürlich am tollsten gehaust. Auch hier mit Ausnahmen, die meist eintraten, wenn sie eine energische Persönlichkeit vorfanden. Ein Großgrundbesitzer aus der Nähe von Wehlau erzählte mir, auf einem Gut hätte es sehr zum Guten gewirkt, daß er und sein erster Inspektor Abstinenzler seien, also kein Alkohol weit und breit zu finden gewesen sei. Die Russen benahmen sich manierlich, tanzten abends mit den Weibern und Mägden und halfen sogar bei der Landwirtschaft. Als sie aber Hals über Kopf abziehen mussten, nahmen sie drei Mädchen mit. Eines kam nach Wochen aus dem Russischen zurück, trübsinnig, an Leib und Seele ruiniert, auch äußerlich kaum mehr zu erkennen. Die Leute brachtens nicht übers Herz, sie konnten die Verwüstete nicht freundlich und mitfühlend aufnehmen, und da ist sie ins Hochwasser des Pregel gegangen. Von den andern zwei weiß man nichts, wie von so vielen, vielen; die Listen der Vermißten, Flüchtiggegangenen halten jetzt bei 40 000.
Der Augenblick, wo es schief zu gehen anfing, war fast überall der kritische Moment. Allenstein wurde dadurch gerettet, daß ein Artillerie-Duell den Feind sofort vertrieb.
Tapiau fiel ebensolchem Artillerie-Duell zum Opfer. Ich bin an einem dieser trübseligen Oktobertage von Tapiau nach Wehlau gegangen. Die Brücke über den Pregel gesprengt, so daß ihre zwei Hälften kopfüber ins Wasser stürzten. Am sumpfigen Ufer entlang geht man bis zur Schiffbrücke, drüben am anderen Ufer auf einer Anhöhe steht das „Schloß“, Backstein, hoher, burgartiger Aufbau, jetzt Besserungsanstalt und von russischen Granaten zur Ruine geschossen. Bei der Ausquartierung der Zwangszöglinge sind übrigens eine ganze Anzahl durchgegangen; leider läßt sich nicht feststellen, wieviel „Russengreuel“ auf ihre Rechnung kommen; daß es leider einheimisches Lumpengesindel zum Teil war, was raubte und plünderte, das belegt einem jeder Gutsherr und beweist vor allem ein Anschlag in Gumbinnen, in dem der Bürgermeister diesen doppelten Schuften mit den schlimmsten Strafen droht. In Tapiau allerdings ist nichts mehr zu plündern.
Am Rande der Hadeslandschaft, die das zertrümmerte Schloß überragt und die man im tiefsten Schlamm durchwatet, liegt hügelan das Städtchen. Zuerst in einem mauerumzogenen Garten ein unversehrtes Landhaus und dann Trümmer, nichts als Trümmer. Der große Marktplatz, der für Ostpreußen typisch ist, von Trümmern umgeben, die Abfahrtsstraßen nach Osten von Trümmern eingefaßt, darunter das ehemalige Postgebäude, dessen Dachstuhl mit dem schweren, vielarmigen Telegraphendrahtständer durch sämtliche Stockwerke bis in den Keller heruntergebrochen ist. Ich bin nachher über die Deime und durch den Wald vor Grünhaye zu den russischen Stellungen gegangen. Da liegen, inmitten einer großen, rasch gefällten Lichtung, die gewaltigen Schützengräben der Russen, mit Holzstämmen gedeckt, die mit Erde beworfen wurden und dabei über richtige Kammern mit Tisch und Stuhl und Strohlager gewölbt. Am Ende von Tapiau liegt die Landesirrenanstalt, aus deren Turmlöchern heute noch die Rote Kreuz-Fahne hängt. Ich habe sie von den russischen Stellungen aus mit bloßem Auge gesehen. Welches Warnungszeichen aber so wenig wie die genaue Kenntnis, welchen Charakter der große Gebäudetrakt habe, die Russen abhielt, die Anstalt unter Feuer zu nehmen, die nicht einmal in der Schußlinie auf Tapiau zu liegt. Es war mir angesichts dieser von den Russen zerschossenen Häuser und Zellen eine der schlimmsten Vorstellungen vom ganzen Kriegsschauplatz: die Beschießung einer Anstalt voll Geisteskranker. Daneben will die Vernichtung eines Baudenkmals gar nichts heißen.
Wehlau und Insterburg mußten zu schnell geräumt werden, der Generalissimus selbst hatte ja alle Not, fortzukommen. In Gumbinnen aber war noch Zeit zur Rache, und da kann man den Anfang einer sachgemäßen Plünderung am besten beobachten. Am Eckhaus der Hauptstraße, wo das Elchdenkmal steht, begann´s. Der Eckladen vernichtet, und nun Laden für Laden die Straße herunter ausgeräubert; nur um des Raubes willen, denn in einem Schuhgeschäft fehlen zum Beispiel Hunderte von rechten Stiefeln. Ehe das Werk durch Brandstiftung gekrönt werden konnte, hieß es auch hier fort, während in Stallupönen, also wieder ein paar Stunden östlicher, Zeit genug war, alles, was der Artilleriekampf verschont hatte, in Brand zu stecken. Hier sind nur die größeren Orte erwähnt. Aber links und rechts und vor allem in dem Viereck Nordenburg – Friedland – Allenburg – Matheningken liegt alles verwüstet und rachedurstig zerstört. Hier stehen auch die Trümmer von Gerdauen, von dessen Schicksal ich noch erzählen will.
Gerdauen liegt im fruchtbarsten Ostpreußen, das auch landschaftlich reizvoll ist. Vom (unzerstörten) Bahnhof führt die Chaussee, deren Bäume gefällt wurden, zu den Hügeln, auf denen rechts das Schloß, links, über einem kleinen See, das Städtchen liegt. Oder lag. Zuerst verdecken noch Alleen die Verwüstung, bei der Wegbiegung aber steht man am Marktplatz, von dem drei Seiten vernichtet sind, ebenso wie alles, was nach der Kirche zu liegt. Eine Dorfstraße steht noch. Eine Dame, deren Mann beruflich an diese Stätte völliger Vernichtung gebunden ist, erzählte mir angesichts ihres dem Erdboden gleichgemachten Hauses, von dem nur noch zwei Kamine stehen. Die Kamine, aus gebranntem Lehm und breit, wie für Holzfeuerung, scheinen überhaupt besonders widerstandsfähig gewesen zu sein, denn sie stehen noch zu Dutzenden, auch da, wo von den Häusern nur mehr die Grundmauern vorhanden sind, und geben der Totenstadt ihr gespenstisches Aussehen: als wären sie die Essen einer unterirdischen Höhlenansiedlung. Die Russen waren zwanzig Tage lang sehr manierlich. Sie sorgten für die zurückgebliebenen Einwohner, und selbst die Kosaken gehorchten dem Befehl, die Häuser nicht zu betreten. Eine deutsche Schwester war zurückgeblieben und pflegte die russischen Verwundeten. Da kamen die ersten Septembertage und mit ihnen die Deutschen. Die Russen ließen den Ort räumen und den Rest der Einwohner in Sicherheit bringen. Sie warfen im Westen burgartige Schützengräben auf, der Kampf begann. Der russische General leitete ihn vom Kirchturm aus. Eine wohlgezielte Granate riß ein gewaltiges Loch in die Turmwand und tötete ihn. Damit schwand alle Disziplin. Deutsche Geschosse hatten viel zerstört; aber nun warfen die Russen die Brandfackel in Haus für Haus. Sie wollten die ganze Stadt anzünden; da trat ihnen die deutsche Krankenschwester entgegen und sagte: „Tut´s. Dann verbrennen eure Verwundeten!“ Damit rettete sie den jämmerlichen Rest. Dann kam die Flucht der führerlosen Horden Hals über Kopf. In einem kleinen Wäldchen bei Gerdauen hatten sie in aller Eile ein Massengrab nicht ausgehöhlt, sondern erhöht. Nun kam Regen und Sturm, und jetzt beginnen die nackten, der Stiefel beraubten Füße aus der dünnen Erdschicht hervorzukommen. Eine grausige Art, das feindliche Land zu okkupieren . . .
Wie auf einem Herbstausflug, am schönsten Oktobertag, fuhr mich ein gebrechlicher Zweispänner von Gerdauen nach Friedland, einem seinen Städtchen, in dessen Anlage mehr von geschichtlicher Herkunft steckt, als in den meisten Orten Ostpreußens. Dazu ist es einer (wenn auch ein trauriger) der Schauplätze preußisch-russischer Waffenbrüderschaft, an der in Ostpreußen, besonders unter den Herren, noch mehr Herzen hängen, als im Unterelsaß an französischen Erinnerungen. Was heute das Schicksal Ostpreußens geworden ist, daß es keine natürlichen, abschließenden Grenzen hat, war im Frieden die beste Grundlage für einen regen Verkehr über die Grenze von Gut zu Gut. Nimmt man dazu innerpolitische Sympathien, gleichartiges staatsrechtliches Denken hüben und drüben, so versteht man, daß man in Ostpreußen auch jetzt, nach all dem Schrecklichen, von Großgrundbesitzern noch Äußerungen hören kann, ganz im Sinne von Fontanes altem Stechlin: „Das waren Preußens beste Tage, als da bei Potsdam herum die „russische Kirche“ und das „russische Haus“ gebaut wurden und als es immer hin und her ging zwischen Berlin und Petersburg.“ Das war ja schon seit Jahren und ist heute endgültig vorbei. Bei Friedland wurde die Heilige Allianz geschlagen, bei Gerdauen und an hundert anderen Orten, bei jeder zerstörten Heimstätte wurde sie für immer zerschlagen. Ich kehrte mich in dem wackeligen Zweispänner um, da lag wie ein Gräberfeld, überragt von hundert Kaminen, die vernichtete Stadt, inmitten der rot und gelb flammenden Alleen und Gärten, eine Farbenwut, wie ich sie lodernd bis jetzt nur in Ostpreußen gesehen habe, und die wie reinigende Gluten eines ungeheuren Scheiterhaufens alles umfaßt, die Ruinen deutscher Städte und die Grabhügel russischer Toten, aus denen gespenstisch Hand und Fuß hervorkriechen.

Ulrich Rauscher


Fotos aus den Kämpfen um Ostpreußen 1914-1915

 

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